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Kapverden

Sal und Brava 2021

Ein Bericht von Dr. Marga Keyl, Tierärztin

Der Wecker klingelt. Kurz frage ich mich, warum er das tut? Und wo ich bin? Ach so, ich liege bei Melanie in Sulzemoos bei München auf dem Sofa, es ist zwei Uhr morgens. Ich habe mich bereit erklärt, unseren Mercedes-Bus, der in Deutschland beim TÜV war, wieder nach Kreta runterzufahren, voll beladen versteht sich. Das Beladen hat Thomas übernommen, und wenn er das tut, dann ist das Auto auch wirklich voll. Zum Glück haben mein Koffer und mein Hund ein freies Plätzchen im Fußraum des bepackten Beifahrersitzes gefunden. Thomas meint, ich solle die Heckklappe und die Seitentür nicht öffnen, die würde ich nie wieder zu kriegen. Es passt wirklich nicht mal mehr eine Zahnbürste irgendwo zwischen. Und da die Fliegerei auf Dauer auch langweilig sein kann, genieße ich nun in aller Herrgottsfrühe die Abwechslung.

Um halb drei muss ich spätestens los, damit ich die acht Stunden Fahrt plus Pausen nach Ancona so schaffe, dass ich um 13h30 die Fähre nach Patras in Griechenland erwische. Von der Fahrt durch die Alpen bekomme ich leider nicht viel mit, denn es ist stockfinstere Nacht. Als ich die Berge am frühen Morgen hinter mir lasse, geht die Sonne über Italien auf.

Ohne größere Schwierigekeiten fahre ich Stunden später auf die Fähre, schnappe mir meinen Hund Emmy, meinen Schlafsack und meine Isomatte und schlage an Deck mein Lager auf - Hunde sind in den Innenräumen leider nicht erlaubt, bzw. sehr teuer. Es ist ein kleines Abenteuer, doch ich liebe das Meer und die frische Luft draußen an Deck. In Deutschland fängt es gerade an, kalt zu werden, und ich bin froh, dass ich in den Süden flüchten kann.

Seit dem Frühjahr war ich nicht mehr auf Kreta, im März brauchten wir noch Sondergenehmigungen, um über die Insel zu fahren. Ich bin gespannt, wie sehr sich inzwischen alles wieder normalisiert hat. Unser Kastrationsplan steht: zunächst die Osttour, danach werden wir in der Gemeindeklinik von Zouridi operieren, anschließend in Tsivaras. Für Sie sind diese griechischen Orte nur unaussprechliche Namen, für mich verbinden sich damit sehr anstrengende OP-Tage.

Gestern Abend erreichte mich eine Nachricht von Sigi, einer Tierschützerin, ob ich noch Zeit hätte, zwei Tage nach Paleochora zu kommen? Jeder von unserem Tierärztepoolteam fährt gerne nach Paleochora, weil es dort einfach nur schön ist. Die Vorfreude steigt.
Während ich an Deck die Sonne genieße, die Augen schließe und eigentlich nach der nächtlichen Fahrt gut einschlafen könnte, wandern meine Gedanken auf die Kapverden. Direkt nach meinem Einsatz auf Kreta wird es nach Praia, der Hauptstadt, gehen, in der endlich wieder große Kampagnen stattfinden, die leider coronabedingt für einige Zeit auf Eis gelegt werden mussten. Doch in Praia war wenigstens die ganze Zeit ein Team vor Ort, welches Kastrationen durchführen konnte - wenn auch nur im kleineren Rahmen.
 

Ich denke an den letzten Mai zurück, als wir es nach 18 Monaten Zwangspause endlich wieder nach Sal, der Nachbarinsel, geschafft hatten. Eigentlich war der Einsatz schon für Februar geplant, doch drei Tage vorher wurden unsere Flüge gestrichen. Wir, das sind meine junge Kollegin Julia Gruhn und ich. Julia ist inzwischen frischgebackene Tierärztin und es wäre einfach schön gewesen, wenn wir zwei Tage nach ihrer letzten Prüfung hätten fliegen können. Wo kann man sich vom Prüfungsstress besser erholen als bei einer Kastrationsaktion auf Sal? Nun gut, es wurde also Ende Mai.
Glücklicherweise waren im April schon Madueno und Gilson, unsere beiden Fachkräfte von den Bons Amigos, auf Sal, denn der Bedarf an Kastrationen war gewaltig. In 18 Monaten wurden nur vereinzelt Hunde auf der Insel kastriert, und das zeigte sich nun leider überall in den Straßen. Es liefen neue Rudel durch die Stadt, mehrere Hündinnen wurden mit einem Gesäuge gesehen, welches uns sagte, dass neue Welpen schon wieder geboren wurden.

Ich war geschockt, alles war über viele Jahre so schön unter Kontrolle. Und nun? Wo sollen wir anfangen? Madueno und Gilson hatten schon an die 400 Tiere im April behandelt. Wie viele würden es bei uns werden?
Viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Zunächst musste die Klinik vorbereitet und das Inventar gesichtet werden. Ich war mir nicht ganz sicher, was alles noch da ist, denn im Winter wurde in den Raum eingebrochen und viel gestohlen. Vieles fiel erst vor Ort auf, als es plötzlich gebraucht wurde und nicht da war. Andere Sachen hatte ich schon abgeschrieben, die dann aber doch wieder auftauchten.Naja, wir sind eben auf Zwischenfälle trainiert und vorbereitet und konnten so unverzüglich anfangen zu arbeiten.

Während wir noch versuchten, Ordnung ins Chaos der Klink zu bringen, stand schon der erste Patient in der Tür. Aaron ist 16 und vor kurzem mit seiner Mutter von Deutschland nach Sal gezogen. Bei der Nachbarsfamilie lebte ein Welpe, den er uns brachte. Die Symptome: er übergibt sich und frisst nicht. Öfter mal was Neues. Alarmglocken. Wir hingen die kleine Hundedame zwischen Tür und Angel - oder soll ich sagen zwischen Medikamentenflaschen und Kanülen - an den Tropf und versorgten sie mit Medikamenten, während wir alles für den nächsten Tag packten. Da wir zunächst im Canil Municipal operierten, mussten wir die Kleine mit Aaron später nach Hause schicken, doch nicht, ohne ihm genaue Instruktionen mitzugeben.

Ich war diesmal tatsächlich (vorsichtig ausgedrückt) positiv überrascht vom Gemeindetierheim. Es hat sich einiges getan. Ein Außengehege ist endlich fertiggestellt worden, in dem sich die Hunde gruppenweise am Tage frei bewegen können. Statt Essensresten von den Hotels gibt es „richtiges“ Hundefutter. Die Tiere werden (so gut es geht) gegen Parasiten behandelt. Sehr kranke Hunde werden von der Straße eingesammelt und (so gut es geht) behandelt. Sie sehen, ich bin noch nicht komplett überzeugt, denn nach wie vor bin ich der Meinung, dass dies kein Platz für Hunde ist. Die Chancen auf Adoption sind gering, die Chancen, dass diese Hunde den Rest ihres Lebens hinter Gitter verbringen, umso größer. Eine Hündin mit kleinen Welpen befand sich auch im Zwinger, wie lange die kleinen Hundekinder das überleben, ist fraglich. Irgendwann wird Parvo sie erwischen oder ein großer Hund, denn sie passten durch die Gitterstäbe und nutzen diese Freiheit auch fleißig.  

Eine der nächsten Stationen war Terra Boa. Sie kennen den Namen vielleicht schon aus vorherigen Berichten. Vielleicht haben Sie auch auf Facebook die kurze Videosequenz gesehen, die Julia und ich gedreht haben, dann können Sie sich vorstellen, von was ich spreche. Terra Boa ist eine Barackensiedlung im Norden der Insel. Hier gibt es kein fließendes Wasser und keinen Strom. Ich muss jedes Mal lachen, wenn ich das kurze Video sehe, den Teil, in dem Julia sich mit der Kamera auf den Weg zu unserem OP-Raum macht. Es geht etwas im Hintergrundlärm unter, doch wenn Sie genau hinhören, hören Sie Julia zunächst von unserer „Klinik“ sprechen, nur um das schnell zu relativieren zu „ähm unser Raum“. Das ist Caboverde, wir nehmen, was wir kriegen und passen uns an. Was sollen wir auch sonst tun? Die Löcher im Fliegengitter wurden mit irgendetwas geflickt und jeder, der die Tür zu lange offenließ, wurde zunächst freundlich, bei wiederholtem Male weniger freundlich darauf hingewiesen, sie doch bitte wieder zu schließen, damit die Fliegen nicht reinkommen.

Die Menschen standen schon Schlange mit ihren Hunden als wir eintrafen und wir ahnten bereits, dass dieser Tag lang werden würde. Strom bekamen wir durch einen Generator, der allerdings immer schwächelte, wenn wir unseren Autoklaven anschlossen. Jedes Mal war es ein Zittern, ob der Autoklav bis zum Ende durchlaufen würde oder ob der Generator vorher verstummt.
Xavier von der Camara Municipal teilte uns mit, dass noch ein „Veterinario Tecnico“ (in etwa mit „Tierarzthelfer“ zu übersetzen) zur Narkosevorbereitung kommen würde. An sich keine schlechte Idee, aber wer ist das? Ich war skeptisch. Als Eder dann vor Ort mitarbeitete, merkte ich schnell, dass er genau unsere Narkosevorbereitung macht, was mich zwar positiv überraschte, aber auch etwas verwirrte. Man klärte mich auf: er hatte einige Wochen bei den Bons Amigos in Praia verbracht und dort gelernt. Aha, na dann muss ich ihm ja nicht die ganze Zeit auf die Finger gucken, wie praktisch. Eder erwies sich als äußerst hilfreich, ohne ihn wären die Tage wohl deutlich länger geworden. Er arbeitet sonst bei Fatima, der Tierärztin auf der Insel, die uns versprach, dass wir ihn uns jederzeit ausleihen dürfen.
Die Menschen in Terra Boa warteten geduldig den ganzen Tag lang, bis sie an der Reihe waren. Keiner ging vorzeitig nach Hause, weil er oder sie nicht mehr warten wollte. Einige der Welpen waren so mit Zecken und Flöhen übersäht, dass wir sie mit Antiparasitika nach Hause schickten und die Besitzer baten, am nächsten oder übernächsten Tag wiederzukommen. Und sie kamen wieder. Mit einem völlig verwandelten Hund, der in dieser kurzen Zeit durch den Verlust der Parasiten schon viel kräftiger wirkte. Und damit auch operationsfähig war.
Eine alte Rottweilerdame wurde gebracht, das Gesäuge sprach Bände, der Hund selbst nur noch Haut und Knochen. „Wie viele Welpen hat sie in ihrem Leben schon gehabt?“ frage ich den Besitzer entsetzt. „Über 100!“ lautet die stolze Antwort. Ich hoffte in dem Moment inständig, dass die arme Hundeomi nun endlich zur Ruhe kommen kann und all ihre Energie ab jetzt für sich nutzen darf, anstatt für all die Welpen, die sie großgezogen hat.

Das genaue Gegenteil kam im Anschluss: die süßeste, schwarz-weiße Pitbulldame, die mir bisher begegnet ist. Sie war bereits sieben Jahre alt und die Besitzerin hat stets darauf geachtet, dass sie nie Welpen bekommt. Doch nun war sie besorgt, denn seit zwei Monaten hörte die Hündin nicht auf, aus der Scheide zu bluten. Die Operation förderte eine massive Pyometra zu Tage, von der sich die Hündin nur mühsam erholte. Sie blieb zur weiteren Behandlung bei uns und wurde täglich von ihren besorgten Besitzern besucht, die dafür extra nach Santa Maria kamen. In kleinen Schritten wurde das Fieber weniger und nach einigen Tagen konnten wir sie ruhigen Gewissens nach Hause entlassen. 

Die letzten Tage verbrachten wir in Santa Maria. Die Menschen rannten uns die Bude ein wie lange nicht mehr. Alle waren so froh und dankbar, dass wir wieder hier arbeiten. Nicht nur Hunde, auch Katzen wurden in großer Zahl gebracht. Julia`s Schonfrist reduzierte sich in rasanter Geschwindigkeit, aber die Situation hatte sie ja bereits als Studentin kennengelernt. Nur dass sie nun als fertige Tierärztin hinter dem OP-Tisch stand und sich die Hände und die Finger erst an all diese vielen Bewegungen und Belastungen gewöhnen mussten.
Vom Rücken spreche ich gar nicht erst.

Neben den Kastrationen gab ich ihr so viele andere Operationen wie möglich, denn auch diese müssen erlernt werden und dazu muss man erst einmal die Angst davor verlieren. Ein zerstörtes Hundeauge ist komplizierter zu entfernen als das einer Katze. Ein Hundebein ist schwerer zu amputieren als das einer Katze. Ich kenne das Gefühl nur zu genau, denn ich war auch einmal an diesem Punkt. Wieder einmal wird mir klar, wie routiniert wir alle sind und dass die Art und Weise, wie wir operieren, keinesfalls selbstverständlich ist.
Zwischen den Operationen kamen immer wieder Tiere zur Behandlung. Der kleine Welpe von Aarons Nachbarn war schnell genesen, es war zum Glück kein Parvo. Doch Aaron selbst hatte inzwischen eine eigene Hündin, etwa fünf Monate alt. Immer wieder hatte sie Fieberschübe und wollte nicht fressen. Jeden Tag kam er zu uns in die Klinik und half von morgens bis abends fleißig mit. Seine Hündin war immer dabei und schnell auch wieder gesund.

Die Tage in Santa Maria arbeiteten wir bis spät in die Nacht. Eigentlich stoppte uns nur die Tatsache, dass der arme Nachbar, der uns freundlicherweise ein Stromkabel von seiner Wohnung zu uns gelegt hatte, auch irgendwann mal schlafen wollte.
„Gut, dann kommen wir am nächsten Tag eben etwas eher und machen die letzten sechs Katzen morgen früh. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig“, beschloss ich, und Julia stimmte mir zu. Es war fast Mitternacht.
Wir packten zusammen, nur eine Frage blieb noch: wie kriegen wir Aaron jetzt wach? Wir hatten schon mehrfach versucht, ihn nach Hause ins Bett zu schicken, doch er weigerte sich, da sonst niemand mehr zum Helfen vor Ort war. Und nun war er friedlich auf dem Boden im Schneidersitz eingeschlafen und seine kleine Hündin schlief auf seinem Schoß.

Es ist 5:30h morgens, ich habe an Deck der Fähre mit Isomatte und Schlafsack recht gut geschlafen und meinen Bericht für Sie fertig geschrieben. Um mich herum herrscht schon einige Bewegung. Ich wühle mich aus meinem Schlafsack und stelle mich an die Reling. Vor mir sehe ich die Lichter von Heraklion. Der Wind weht mir angenehm warm ums Gesicht und ich freue mich, in einer guten Stunde Zuhause im NLR zu sein. Habe ich gerade „Zuhause gesagt? Schön, dass die Welt mein Wohnzimmer ist.

Eure Marga

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Der Förderverein Arche Noah Kreta e.V. ist ein tiermedizinisch orientierter Tierschutzverein, dessen Schwerpunkt die Kastration von Straßentieren ist. Das Team besteht aus mehreren Tierärztinnen und Helferinnen, die international Kastrationsaktionen durchführen.
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In vielen unserer Projekte werden regelmässig Helfer benötigt. Manchmal brauchen wir tiermedizinisch vorgebildete Unterstützung. Manchmal einfach Menschen, die die Tiere vor und nach der OP betreuen, Boxen waschen und anpacken, wo Hilfe benötigt wird. Wenn Ihr der Meinung seid, dass wir Euch kennenlernen sollten, sendet uns eine Email an   jobs@tieraerztepool.de.
Oft aber kann jeder einfach helfen - so zum Beispiel bei den Kastrationsprojekten auf Rhodos oder in Epanomi. Hier werden Leute benötigt, die Katzen vom und zum Fangort fahren, Fallen und Boxen reinigen usw.

In den Helfergruppen auf Facebook könnt Ihr Euch vernetzen:

  Flying Cats e.V. - Kastrationsprojekt Rhodos - Helfer

  ACE - Tiere in Not (Epanomi)

TierInsel Umut Evi e.V.: Kontaktaufnahme über tierinsel-tuerkei-vorstand@t-online.de