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Enez Mai 2015

Ein Bericht von Dr. Melanie Stehle | Tierärztin

Gedankenverloren blicke ich aus dem Fenster und beobachte die vorbeirauschenden Felder. Die Ähren des Weizens bewegen sich sanft im Wind und recken sich in sattem, saftigem Grün der Sonne entgegen. Immer wieder sehen wir in der Ferne Kuhherden mit Kälbern, in welchen die Jungtiere friedlich neben ihren Mutterkühen in gemütlichem Gang wie Nomaden über die Wiesen ziehen. Weit und breit keinen Zaun, der das Leben dieser Tiere eingrenzt. Die Bauern begleiten das grasende Vieh über die Felder - was für ein schöner, friedlicher Anblick, ein Leben, das Nutztiere in Deutschland in dieser Form nicht erleben dürfen. Umso mehr freue ich mich, hier diese vermeintlich fortschrittliche Form der Tierhaltung nicht zu entdecken. Auf der Fahrt durch das Land begegnen uns immer wieder die Klüfte zwischen Fortschritt und alter Kultur, zwischen westlichem Denken und herkömmlicher Tradition.

Wir werden nicht selten mit stark misshandelten Tieren konfrontiert oder sehen Hunde, die extreme Angst vor "ihrem Besitzer" haben. Panik erfüllt ihre Blicke, die weit aufgerissenen Pupillen spiegeln die durchlittenen Ängste wieder.

Keiner wusste, was uns bei diesem Kastrationseinsatz erwarten würde. Noch nie führten wir eine Aktion in der Türkei durch. Soweit wir informiert wurden, hatte noch nie eine ausländische Organisation eine Genehmigung für eine Kastrationskampagne erhalten, ohne dass türkische Tierärzte die Verantwortung trugen. Allein dies war im Vorfeld eine riesige Sensation, die wir alle nicht zu glauben wagten. Doch was war es, was den Stein ins Rollen und an keiner Stelle zum Stillstand brachte? War es die von den Initiatoren Max und Doris Walleitner ausgestrahlte Souveränität und Professionalität, die das Vertrauen der verantwortlichen Behörden weckte und sie aufhorchen ließ? War es die Fügung, zur richtigen Zeit auf die richtigen Menschen vor Ort zu treffen? Menschen, die um jeden Preis eine Zukunft und ein besseres Leben für ihre Straßentiere erreichen wollten? Menschen, deren Herzen mit der gleichen Intensität und Liebe wie die unseren schlugen und sprachliche Barrieren deshalb nicht wirklich ein Problem darstellten? All dies muss eine Rolle gespielt haben - ansonsten wäre dieses Projekt nicht ein so großartiger Erfolg geworden!

Nach fünfstündiger Fahrt vom Istanbuler Flughafen Richtung Nordwesten, vorbei an friedlich grasenden Kuhherden, kamen wir schließlich in Enez an. Enez ist ein, für den türkischen Tourismus, bekanntes Städtchen, dessen eigentliche Einwohnerzahl von 5000 Seelen während den Sommermonaten auf 60 000 Menschen ansteigt. Die schätzungsweise 1000 Straßenhunde profitieren von den Urlaubern. Sie werden gefüttert oder können sich vom anfallenden Müll ernähren. Umso härter wird für sie die Winterzeit, wenn die Touristen fern und die Mülleimer leer bleiben. Die Grenze zur EU, sprich Griechenland, können wir von unserer neuen Basis aus sehen.

In Enez angekommen, inspizierten wir umgehend unseren zukünftigen Arbeitsplatz: uns wurde für die Kastrationsaktion ein altes Schulgebäude mit 16 Räumen zur Verfügung gestellt. Dies hatte den grandiosen Vorteil, dass wir alle Straßenhunde nach der Kastration noch für mehrere Tage zur Überwachung bei uns behalten konnten. Wir begannen umgehend mit der Vorbereitung unseres Operationsraumes. Doris und Max hatten mit ihrem VW-Bus alles erforderliche Operationsmaterial aus Deutschland mitgebracht. Die Medikamente wurden vorab über türkische Kollegen in der Türkei bestellt. Somit war die Spannung unsererseits immens, ob die erforderlichen Medikamente und Materialien bis ins kleinste Detail so zur Verfügung standen, dass wir am nächsten Morgen in der Früh mit den ersten Operationen beginnen konnten: und es war, wie zu erwarten, alles perfekt organisiert und für die ersten Patienten vorbereitet! Und so begannen wir am 18. Mai unsere 8-tägige Kastrationsaktion in Enez.

Oft ertappe ich mich, wie meine Gedanken abschweifen und ich die Geschehnisse um mich herum beobachte. Eine Vielzahl an hoch motivierten Menschen wuselt an uns vorbei. Türkische Kollegen aus dem Kleintier-, Großtier- und Amtsveterinärbereich, Tiermedizinstudenten, Mitglieder des ortsansässigen Tierschutzvereines, Max und Doris als die Verantwortlichen und Organisatoren. Jeder dieser Menschen steht für die komplette Zeit von morgens bis nachts mit seiner Arbeitskraft und Motivation diesem Projekt zur Verfügung. Sie können sich vorstellen, dass ein Beherbergen von 180 Hunden auch eine Menge an Kot und Urin mit sich bringt. Von der geruchlichen Belastung ganz zu schweigen. Eine vom Bürgermeister für uns abgestellte Putztruppe band sich Handtücher als Atemschutz um den Kopf, trotzdem verließen sie innerhalb der ersten zehn Minuten flutartig wegen Ekel vor Exkrementen und Hunden das Gebäude. Doch alle anderen blieben, von der ersten bis zur letzten Minute. Während ich diese Zeilen schreibe, bekomme ich bei dem Gedanken an das Team eine Gänsehaut. Der Zusammenhalt aller Beteiligten war grandios und absolut beeindruckend. Wir sind stolz, ein Teil dieses Teams gewesen zu sein.

Wird mit zwei Tierärztinnen an zwei Operationstischen operiert, sehe ich die logistische Herausforderung, die zwangsläufig durch die hohen Tierzahlen entsteht. Es ist nicht nur für uns innerhalb des Operationsraumes eine konditions- und konzentrationsmäßige Herausforderung, in optimal abgestimmten Arbeitsschritten ein Tier nach dem anderen mit hoher Konzentration zu operieren und zu versorgen. All die Tiere müssen ebenso eingefangen, mit beschrifteten Halsbändern zum Kastrationsort gebracht werden. Sie müssen nach der Operation mit einer Ohrmarke versehen, bildlich dokumentiert, bis zum Aufwachen betreut und noch mit allen erforderlichen Dingen wie beispielsweise das Säubern der Ohren, Kürzen der Krallen oder mit Einsprühen gegen Parasiten versorgt werden. Alle Hunde, die von den Vortagen bereits zur Überwachung im Haus sind, müssen gefüttert, getränkt und deren Wunden kontrolliert werden. Von den Reinigungsarbeiten ganz zu schweigen. Vor dem Zurückbringen der Tiere an ihren Herkunftsort unterliegen alle einem Ausgangscheck, ob alles in Ordnung ist. Sie können sich vorstellen, welch Helferstab für einen reibungslosen Ablauf hierfür erforderlich ist. Schon Monate im Vorfeld organisierten Max und Doris Walleitner in diversen Treffen mit verantwortlichen Behörden alle wichtigen Genehmigungen. Mit dem Tierarzt Baris Kasimoglu hatten wir das große Glück, einen türkischen Kollegen vor Ort zur Seite zu haben, der sich mit den Begebenheiten bestens auskannte. Abgerundet wurde das Team mit der hervorragenden Unterstützung von Suzan Alt, die für die Übersetzungen bei allen Gesprächen im Vorfeld und während der Aktion zur Verfügung stand. Ohne sie wäre die Aktion nicht die gewesen, die sie war.

Noch nie führten wir eine Kastrationsaktion durch, bei der so viele einheimische Tierärzte und Tiermedizinstudenten sich mit ihrer Hilfe einbrachten. Alle halfen an den verschiedensten Bereichen mit, immer dort, wo Hilfe und Unterstützung erforderlich war. In einem rotierenden System waren die Studenten mit uns im Operationsraum und wir erklärten ihnen, was wir gerade taten. Wissenshungrig wurden all unsere Handgriffe beobachtet und viele Fragen gestellt. Ich freue mich auf diese neue Generation von Tierärzten, die mit Herz für ihre Straßentiere da sind und mit Kastrationsprojekten den Tieren helfen möchten. In ihren Händen liegt die Zukunft der türkischen Straßentiere und es ist schön zu sehen, dass diese jungen Menschen trotz bevorstehendem Prüfungsmarathon lieber den Tieren helfen wollten, als vor ihren theoriebehafteten Büchern zu sitzen.

Insgeheim hoffe ich vor jedem Einsatz, dass keiner unseres Teams in Situationen gerät, die emotional und psychisch nicht aushaltbar sind. Wir werden nicht selten mit stark misshandelten Tieren konfrontiert oder sehen Hunde, die extreme Angst vor "ihrem Besitzer" haben. Man muss meist kein Hundeprofi sein um innerhalb weniger Momente zu erkennen, dass diese Hunde von ihren Besitzern gepeinigt und extrem schlecht behandelt wurden. Panik erfüllt ihre Blicke, die weit aufgerissenen Pupillen spiegeln die durchlittenen Ängste wieder. Leider mussten wir auch in Enez diese Situation erleben. Wir nahmen eine panisch ängstliche Hündin entgegen und operierten sie. Wir wollten ihren Nachfahren dieses Leben ersparen. Ohne die Worte unserer türkischen Tierschutzfreunde verstehen zu können, merkten wir ihre Betroffenheit über die Geschichte dieser armen Hündin. Es wurde diskutiert und überlegt und noch bevor die Dreitagesfrist vorüber war stand fest, dass die Hündin auf keinen Fall an ihren früheren Peiniger zurückgehen würde. Doch was war passiert? Gehörte sie zu den Hunden, die bereits im Welpenalter an eine Kette gelegt werden, damit sie in der Abgeschiedenheit Grundstücke bewachen? Ohne Kontakt zu anderen Lebewesen? Ohne die geringste Möglichkeit mit etwas Wärme und Geborgenheit aufzuwachsen, wie es in einer guten Kinderstube so üblich wäre? Dieses Vergehen an unseren Mitgeschöpfen begegnet uns fast täglich bei Kastrationseinsätzen.

Diese Hunde hätten das Recht, ihre Peiniger zu hassen. Aber sie tun es nicht, sie lieben sie. Sie lieben sie deshalb, weil sie ihnen gelegentlich Futter und Wasser bringen. Auch wenn die Besitzer das manchmal über eine Woche trotz sengender Hitze vergessen? aber im Falle der kleinen Jagdhündin war dies nicht das Einzige, was ihr angetan wurde, denn sie hatte Panik. Körperliche Gewalt löst diese Ängste aus. Auch wenn die körperlichen Wunden längst verheilt sind, die seelischen werden bleiben. Sie wird in ihrer neuen Familie das erste Mal erfahren, was Liebe und Zuwendung ist, dass man vor Händen und Füßen keine Angst haben muss. Wir sind es unseren Mitgeschöpfen schuldig, für ihre Rechte und ein lebenswertes Leben zu kämpfen. Wir können und müssen Verantwortung übernehmen. Bitte helfen Sie, dass wir weiterhin für die Tiere in der Türkei da sein können.

Ihre Melanie Stehle

Helfen

Der Förderverein Arche Noah Kreta e.V. ist ein tiermedizinisch orientierter Tierschutzverein, dessen Schwerpunkt die Kastration von Straßentieren ist. Das Team besteht aus mehreren Tierärztinnen und Helferinnen, die international Kastrationsaktionen durchführen.
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In vielen unserer Projekte werden regelmässig Helfer benötigt. Manchmal brauchen wir tiermedizinisch vorgebildete Unterstützung. Manchmal einfach Menschen, die die Tiere vor und nach der OP betreuen, Boxen waschen und anpacken, wo Hilfe benötigt wird. Wenn Ihr der Meinung seid, dass wir Euch kennenlernen sollten, sendet uns eine Email an   jobs@tieraerztepool.de.
Oft aber kann jeder einfach helfen - so zum Beispiel bei den Kastrationsprojekten auf Rhodos oder in Epanomi. Hier werden Leute benötigt, die Katzen vom und zum Fangort fahren, Fallen und Boxen reinigen usw.

In den Helfergruppen auf Facebook könnt Ihr Euch vernetzen:

  Flying Cats e.V. - Kastrationsprojekt Rhodos - Helfer

  ACE - Tiere in Not (Epanomi)

TierInsel Umut Evi e.V.: Kontaktaufnahme über tierinsel-tuerkei-vorstand@t-online.de