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Hinter verschlossenen Stalltüren

Man muss also nicht bis nach Süd- oder Osteuropa fahren, um Tierleid zu finden, dies hier ist Deutschland. Dieses Leid ist hier direkt vor unserer Haustüre. Lediglich durch eine Stalltüre versteckt vor uns.

Ein Text von Nina Schöllhorn, Tierärztin

Ein kleines Dorf mitten in Deutschland. Einer der Höfe bietet Milch in Direktvermarktung an. Lustig drein schauende Kühe blicken von einem Werbeaufsteller. Hier holen Menschen ihre Milch, die offensichtlich keine Massenware aus dem Supermarkt wollen. Menschen die vermutlich davon ausgehen, ein gutes Produkt zu erwerben. Was auch immer für den einzelnen gut heißen mag.

Wo kommt diese Milch her? Wo sind die Kühe von denen diese Milch stammt?

Wir finden sie nur wenige Meter weiter hinter verschlossenen Stalltüren. Sie stehen in Anbindehaltung, aufgereiht eine neben der anderen, verdammt zur Bewegungslosigkeit. Aufstehen und Hinlegen ist alles, was man ihnen zugesteht. Mehr Möglichkeiten gibt es nicht. Keinen Schritt nach vorne, keinen nach hinten lässt die Anbindung zu. Sie blicken den ganzen Tag monoton gegen eine Wand, stehen im Halbdunkel, während draußen die Sonne scheint und sich der Frühling ankündigt. Alles worum es hier geht, ist Milch zu produzieren. Das ist ihre einzige Daseinsberechtigung. „Diese hier geht nächste Woche zum Schlachter. Sie nimmt nicht mehr auf,“ höre ich den Landwirt sagen. Sie nimmt nicht mehr auf bedeutet, dass sie nicht mehr schwanger wird. Doch eine Kuh gibt nur Milch, wenn sie jedes Jahr ein Kälbchen austrägt. Eine Kuh, die nicht mehr genug Milch gibt, hat ihre Daseinsberechtigung verwirkt. Ihr einziger Wert ist jetzt noch der Schlachtpreis von vielleicht 600,- Euro. Ich blicke in die Augen der Kuh. Es bereitet ihr Mühe, sich in der Anbindevorrichtung soweit zu drehen um mich anzusehen zu können. Welch ein erbärmliches Leben! Wie nehmen wir Menschen uns das Recht heraus ein Lebewesen derart zu benutzen, auszunutzen?

Der Blick des Landwirtes fällt auf eine weitere Kuh, die bald zum Viehhändler soll. Sie ist trächtig. Ihr weiterer Weg ist noch unbekannt, doch egal wo sie landet, nach der Geburt wird ihr das Kalb entrissen, so wie es überall passiert. Auch diese Kuh schaut mir in die Augen. Auch sie ist ein trauriger Anblick. Ein Kalb nach dem anderen wurde ihr genommen. Jedes Mal eine sehr schmerzliche Trennung, denn Kühe hegen eine sehr enge Beziehung zu ihrem Nachwuchs. Tagelang rufen sich Kuh und Kalb verzweifelt. Doch alles, was zählt ist die Milch im Tank, bestimmt für den menschlichen Verzehr.

Diese Kühe haben weniger Bewegungsmöglichkeit als jeder Kettenhund. Man muss also nicht bis nach Süd- oder Osteuropa fahren, um Tierleid zu finden, dies hier ist Deutschland.  Dieses Leid ist hier direkt vor unserer Haustüre. Lediglich durch eine Stalltüre versteckt vor uns.

Will man sie nicht sehen diese Tiere? Wo ist der Unterschied zwischen einer Kuh und einem Hund?

An diesem Tag verlassen die beiden Kühe mit mir den Stall. Unsicher und sehr nervös sind sie beim Verladen. Sie kennen nichts, außer dem dunklen Stall und der ewigen Monotonie jeden Tages dort.

Während ich hinter dem Viehtransporter herfahre, suche ich nach Namen für die beiden. Die werdende Mutter soll Surya heissen, das bedeutet Sonne. Die etwas aufmüpfige, fast widersetzliche soll Prana heißen, der Lebensatem.

Wir erreichen den Hof, auf dem die beiden zukünftig leben werden. Ein großer Offenstall mit angrenzenden riesigen Weiden. Viele weitere Tierschutzkühe haben hier schon eine Bleibe gefunden. Sie dürfen glücklich und artgerecht leben, ohne irgendetwas leisten zu müssen. Dank der „Lebenshilfe Kuh und Co eV.“, die an diesem Tag zwei Kälbchen freigekauft hat, sind wir an diesen tollen Hof gekommen.

Was sich dann abspielt, als unsere beiden Kühe und die Kälbchen den Transporter verlassen, verschlägt uns fast den Atem. Sie können es nicht fassen, sich endlich bewegen zu können. Sie vollführen Sprünge, scharren im Stroh, inspizieren alles neugierig und vor allem genießen sie es, sich endlich kratzen und schubbern zu können. Sie zeigen ihre angeborenen Verhaltensweisen, die ihnen über Jahre verwehrt wurden. Das Verhalten dieser vier Tiere nach ihrer Freilassung zeigt sehr eindrucksvoll, wie sehr sie all dies vermisst haben. Die Freude, Erleichterung und ihr Glück steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie nehmen Anteil an ihrer Umgebung, sind neugierig, nehmen Gerüche und andere Umweltreize begeistert auf. Wie muss es sich anfühlen, nach Jahren das erste Mal Sonne auf der Haut zu spüren, frische Luft zu atmen?

Diese vier Tiere sind vier ganz eigene Persönlichkeiten. Surya ist eine ruhige, duldsame, sehr liebe Kuh. Prana ist etwas rebellischer, temperamentvoller, eigener, doch ebenso sehr liebenswert. Eines der Kälbchen ist sehr schüchtern. Das andere ist das deutlich mutigere. Der Hofbetreiber zeigt uns die anderen Kühe und erzählt von deren Eigenheiten. Auch hier, alles ganz eigene Individuen, rein äußerlich, aber auch charakterlich.

Wie kommt es, dass wir diese Individualität bei unseren Hunden und Katzen sehen, die sogenannten Nutztiere aber zu einer undefinierbaren Masse verschwimmen? Wie ist es möglich, dass wir alle beim Anblick eines Kettenhundes entsetzt sind, Anbindehaltung von Kühen 365 Tage im Jahr aber noch erlaubt ist? Wo ist der Unterschied zwischen einem Hund und einer Kuh? Ist es möglich, dass dieser Unterschied nur in unseren Köpfen besteht?

Bereits einen Tag später bekomme ich die Nachricht, dass Surya die beiden Kälbchen adoptiert hat und bei sich trinken lässt. Warum hat sie Milch? Es ist ihre Natur ein Kälbchen an ihrer Seite zu haben und es zu tränken. Die beiden mutterlosen Kälbchen haben nun wieder eine Mutter. Und eine Tante noch dazu. Diese vier haben sehr schnell zu ihrem natürlichen Herdenverhalten zurückgefunden. Es ist ihr Grundbedürfnis mit ihrem Nachwuchs im Herdenverband zu leben, sozial zu interagieren, sich bewegen zu können. Haben wir Menschen das Recht ihnen all dies vorzuenthalten?

Eine Woche später besuchen wir erneut unsere Kühe und es ist eine wahre Freude, sie entspannt und glücklich erleben zu können. Einige Vereinsmitglieder sind mit dabei und als wir den Hof verlassen, teilen wir alle dasselbe Gefühl. Es ist ein sehr glückliches, warmes, entspanntes Gefühl, das uns die Kühe mit ihrer Anwesenheit beschert haben. Kühe sind wundervolle Tiere, sie haben eine ganz tolle Ausstrahlung und sind durchaus daran interessiert, freundschaftlichen Kontakt zu uns Menschen einzugehen. Wir müssen ihnen nur die Chance geben sich uns zu zeigen. Dazu müssen wir die Stalltüren öffnen und genauer hinsehen.

Das Thema der Kühe liegt mir schon lange auf dem Herzen. Bzw. genauer gesagt, es belastet mein Herz. Schon sehr lange möchte ich über das Thema Milchindustrie sprechen, aufmerksam machen und aufklären. Nun ist unsere Hauptaufgabe im Tierschutz eigentlich eine andere. Doch wir sind uns einig, dass unser Verein nicht die Augen verschließen will, vor anderen Themen die wichtig sind. Tierschutz kann sich nicht nur auf Hunde und Katzen beschränken. Daher möchten wir unserer Reichweite nutzen, um auch zu diesem Thema mit Ihnen in den Austausch zu treten.

Ich würde mir wünschen, dass es Surya und Prana gelingt, auch die unendlich vielen ihrer Leidensgenossen sichtbar zu machen. Und dass es uns gelingt, Bewusstsein zu schaffen, dass Milch kein unproblematisches Lebensmittel ist. Nicht für die Tiere, nicht für die Umwelt, das Klima und auch nicht für unsere Gesundheit.

Im Mai wird Suryas Kälbchen zur Welt kommen. Es wird bei seiner Mutter bleiben, so wie es die Natur vorgesehen hat. Suryas Milch wird dem Kälbchen gehören, nicht uns Menschen. So, wie es eigentlich sein soll. Wir werden natürlich weiter über unsere Kühe berichten und planen ein Treffen dort im Sommer für alle Interessierten. Auch unabhängig davon könne Surya und Prana jederzeit nach Absprache besucht werden. Ich verspreche, auch Sie werden mit einem glücklichen Lächeln vom Hof fahren.

Vielen Dank an Sabine Maßler von Lebenshilfe Kuh und Co für die tolle Zusammenarbeit. Vielen Dank an Max für Deine Offenheit zu dem Thema und Deinen schönen Film. Vielen Dank an alle Kuhpaten und sonstigen Unterstützer des Projektes. Vielen Dank an Thomas, dass Du sofort hinter mir gestanden hast.

Mein größter Dank gilt Surya und Prana, einfach dafür, dass Ihr seid, wie Ihr seid und mir Eure Gesichter zur Verfügung gestellt habt, um über das zu sprechen, was schon lange gesagt werden musste.

Ihre Nina Schöllhorn



Liebe Tierfreunde!

Der Tierärztepool hat sich im Tierschutz auf das Eindämmen der Populationen von Straßenhunden und -katzen durch Kastrationen spezialisiert. Das wird zukünftig auch so bleiben und genau dafür nutzen wir Ihre Spenden.

Diese Spezialisierung bedeutet aber nicht, dass wir auf anderen Augen blind sind. Im Gegenteil. Wir als Tierärzte haben Einblicke in Themen, die für die Öffentlichkeit lieber verschlossen bleiben sollen. Denn es ist hinter den grünen Stalltüren nicht immer das vorzufinden, was die verblümte Werbung Ihnen verspricht. Auch nicht das, was Lobbyisten Ihnen anpreisen. Die Realität sieht anders aus.

Wiederum bedeutet das aber nicht, dass alle Protagonisten in diesem Spiel Verbrecher sind. Sie bedienen, manches Mal sogar unfreiwillig, einen Markt, der unaufgeklärt und oft auch desinteressiert ist und bei dem nur eins zählt: der maximale Profit. Aber diesen Markt gibt es nun mal! WIR sind dieser Markt! Er wird durch uns am Leben erhalten, zu billiger Produktion gezwungen, weil „billiger geiler“ ist und weil es letztendlich einfach ist, nicht genau hinzugucken.

Unsere Reichweite möchten wir nutzen um wachzurütteln. Wir würden uns freuen, wenn Sie unsere Gedanken teilen können, wenn Sie kurz darüber nachdenken, dass Sie heute mal „Markt“ sein können und mit ihrem Verhalten einen kleinen Teil dazu beitragen, die Welt ein winziges Stück besser werden zu lassen. Probieren Sie einfach mal die Alternativen oder teilen Sie Ihre Gedanken mit uns, Ihren Freunden oder der Familie. Für Kommentare, Ideen oder auch Kritik sind wir offen.

Als wir die erste Kastration durchführten, wurden wir mitleidig angelächelt. Was soll das denn schon verändern? Im letzten Jahr kastrierten wir 20.000 Tiere. Niemand lächelt mehr mitleidig.

Für den Freikauf der beiden Kühe, der Nina sooo wichtig war, nutzten wir kein Geld des Fördervereins, sondern private Spenden. Diejenigen, denen das „Sichtbarmachen“ genauso wichtig ist wie uns, können unser Kuhprojekt gerne durch eine Patenschaft oder eine Spende für Surya und Prana unterstützen.

Und jetzt kastrieren wir weiter. Aber nur mit einem Auge - falls Sie verstehen, was wir meinen :-)

Ihr Tierärztepool