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Veria

Emotionale Zerrissenheit

Ein Bericht von Dr. Melanie Stehle, Tierärztin

Stolz liegt das lebendige Städtchen Veria am Rande des Vermio-Gebirges in Zentralmakedonien, 65km westlich von Thessaloniki. Die Region zählt zu den ältesten Siedlungen Griechenlands und durch die antiken Hügelgräber mit den Gebeinen des Vaters von Alexander dem Großen wurde der Ort zum Unesco Weltkulturerbe ernannt. Die Beschreibung des Reiseführers erscheint vielversprechend und spannend. Unser Programm wird allerdings ein anderes sein. Das wird uns mehr als bewußt, als wir durch die Straßen Verias fahren und die Masse an Hunden und Katzen sehen. Willkommen zurück in der Realität. Eine Realität, die fernab unseres deutschen Wohlstandsdenkens ist. Während bei uns Hunde und Katzen verhätschelt werden, sind sie hier eine Plage, weil es einfach zu viele sind. Wo fängt man hier an, wo hört man auf?

Automatisch scanne ich permanent bei jeder einzelnen Fahrt den Fahrbahnrand ab. Schlafen die Hunde am Straßenrand nur oder sind sie verletzt? Oft halten wir an und überprüfen das. Doch all zu oft ist eindeutig zu sehen, dass jede Hilfe zu spät kommt. Ein kleines schwarzes Kätzchen, dessen Gliedmaßen völlig verdreht am leblosen Körper hängen. Doch ich wundere mich, sie auf den Stufen eines Geschäftes zu sehen. Ich bitte Sabrina, kurz anzuhalten. Leider kommt jede Hilfe für das Katzenkind zu spät. Ich überlege kurz, sie aus ihrer unwürdigen Lage zu befreien und zu beerdigen. Mein deutschgeprägtes Denken, dass sie vielleicht von jemand vermisst wird, stoppt mich. Mich würde es schier wahnsinnig machen, wenn mein Tier abends nicht nach Hause kommt und ich nicht weiß, ob und was ihr zugestoßen sein könnte. Aber hier? Willkommen in der Realität, ich sagte es bereits. Als sie jedoch drei Tage später immer noch unverändert daliegt, nehme ich sie mit.

Seit 2016 dürfen wir im Operationsraum des städtischen Tierheims Kastrationen durchführen. Diese Einsätze waren stets von Höhen und Tiefen geprägt. Höhen, weil wir mit jeder einzelnen Kastration einen Schritt in die richtige Richtung gingen. Höhen, weil wir den verzweifelten Tierschützern eine Stütze im Kampf gegen das allgegenwärtige Leid sein konnten. Höhen, weil wir hochmotiviert von früh bis spät etwas erreichten. Doch wer sich an solche Orte begibt, der erkennt irgendwann auch die Tiefen. Lange Zeit hatte es die Verantwortlichen nicht interessiert, dass die Straßentierpopulation rasant anwächst. Öffentliche Gelder wurden an anderer Stelle ausgegeben und die zuständige Abteilung war mit Personen besetzt, die keine Empathie für Tiere empfinden. Schlechte Voraussetzungen, um die Situation zugunsten unserer Schutzbefohlenen zu verbessern. Dennoch bin ich glücklich, dass die Gemeinde uns immer wieder bittet, ihr zu helfen. Ich hoffe, dass diese Hilfestellung irgendwann einmal in Hilfe zur Selbsthilfe übergehen kann. Dass der Arbeiter im Tierheim motiviert ist, dass der Tierarzt jeden Tag nach dem rechten schaut, dass jeder grünes Wasser gegen frisches Wasser austauscht und dass das restliche Personal so geschult ist, dass es Krankheiten erkennt und die Bedürfnisse der Tiere erfüllt.

Manchmal komme ich mir vor wie in einem Film. Eine Mischung aus Szenen eines Kriegslazaretts und einer Krankenhaus-Notaufnahme. Während unser regulärer Terminplan mit Kastrationen maximal gefüllt ist, werden wir permanent mit Notfällen konfrontiert. Ich nutze die Zeit vor und nach den Operationen und versorge alles, was uns gebracht wird, mit neuen Verbänden, Infusionen und Medikamenten. Unsere Intensivstation im Nachsorgeraum füllt sich Tag für Tag mehr.

Nicht alle Straßentiere, die zur Kastration gebracht werden, sind in einem operationsfähigen Zustand. Manche sind einfach nur fertig und wir müssen zusehen, dass sie überleben. An eine Kastration ist überhaupt nicht zu denken. Neben offenen Wunden an den Hinterbeinchen, schlechten Zähnen, überlangen Krallen und verklebten Augen ergab auch der Bluttest, dass die kleine Bindi - wie sie später heißen wird - Leishmaniose-positiv ist. Sie muss auf jeden Fall nicht mehr zurück auf die Straße. Meine Assistentin Sabrina und ich besprechen das ohne Worte. Ein Blick reicht. Und selbst den brauchen wir eigentlich nicht, denn wir beide ticken bei diesen Fällen absolut gleich. Sabrina päppelt diesen Schatz auf und macht eine glückliche Hündin aus ihr.

Nicht alle haben das Glück auf ihrer Seite. Noch vor unserer Ankunft in Veria erreicht mich die Nachricht von fünf ausgesetzten Welpen. Direkt vor dem Tierheim. Wie jedes Jahr predigten wir im Vorfeld, dass wir keine freilaufenden Welpen während der Kastrationsaktion dulden. Zu groß ist die Gefahr, dass sie sich mit Parvovirose anstecken oder sich bereits angesteckt haben und sterben können. Wie jedes Jahr bekommen wir die Rückmeldung, dass unsere Sorge verstanden wird, aber wohin mit den Welpen? Es gibt keinen einzigen freien Zwinger im Tierheim, es gibt keine Tierschützer in der Umgebung, die noch weitere Plätze frei haben.

Keine Stunde später erreicht mich die Nachricht, die wie ein Schwert die eigene Magengegend trifft - denn der erste Welpe befindet sich mit blutigem Erbrechen und Durchfall in Seitenlage. Der örtliche Tierarzt möchte den hochansteckenden Welpen nicht in seiner Praxis aufnehmen, zu groß ist die Sorge, andere Patienten damit anzustecken.

Als wir ankommen, übernehme ich. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, bereits vor Beginn der Kastrationsaktion mit der harten Realität konfrontiert zu werden. In den kommenden 11 Tagen übernehme ich die Verantwortung für hunderte Tiere. Eine Kastrationsaktion mit solch infektiösem Druck im Nacken ist eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod. Jeder umgeimpfte, junge Hund, der mit den Viren in Kontakt kommt, könnte an der Erkrankung versterben.

Stunden später sind bereits vier der fünf Welpen in besorgniserregendem Zustand. Eine Intensivstation wird in der hintersten Ecke des Tierheims errichtet, peinlichst abgeschottet vom Rest der Aktion. Mehrmals täglich schaue ich in Vollmontur - jeder kennt mittlerweile die Schutzausrüstungen von Coronaintensivstationen - nach meinen Hundekindern. Ich möchte keines der anderen, uns zur Kastration anvertrauten, Tiere in Gefahr bringen. Die nahezu permanente Betreuung der kleinen Zwerge wird von Ronja übernommen - sie päppelt, umsorgt liebevoll, überprüft die Infusionen und gibt die Medikamente. Ich bin ihr unglaublich dankbar, diese verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen.

Und je mehr sie kämpft, dass diese kleinen Herzen nicht aufhören zu schlagen, desto größer werden meine Sorgen, ihr zu viel aufgebürdet zu haben. Die psychische Belastung überragt bei weitem die physische.
Und so tritt das ein, wovor wir alle Angst hatten. Täglich müssen wir einen kleinen Patienten verabschieden. Zoe, die von den Fünfen am Besten durchgehalten hat, beginnt erst Tage später mit Symptomen. Als letztendlich auch ihr Körper kapituliert, verabschiedeten wir uns mit folgenden Worten:
„Zoe - Dein kleines Kämpferherz hat aufgehört zu schlagen. Grüße Deine vier Geschwister lieb von uns, auch sie haben den Kampf gegen das Parvovirus verloren. Vielleicht ist der Ort, an welchem ihr jetzt seid, ein friedlicherer und fairerer als hier. Ihr wolltet leben und die Welt entdecken. Wie gerne hätten wir euch dies ermöglicht. Eine Woche des Überlebenskampfes mit vielen Höhen und Tiefen liegt hinter uns. Als der letzte Atemzug euren kindlichen Körpern entweicht, fehlt auch uns die Luft zum Atmen.“
Keine einhundert Meter davon entfernt sitzen weitere 15 Welpen. Es ist unter den hygienischen Bedingungen nur eine Frage der Zeit, bis auch dort die Seuche wütet. Parvo kennt keine Gnade. Auch unsere fünf kleinen Kämpfer waren bereits zwei Wochen zuvor mit der ersten Impfung versorgt worden. Trotz intensivmedizinischer Betreuung konnten wir das tragische Sterben nicht aufhalten.

Unsere, gemeinsam mit der „TierInsel Umut Evi e.V.“, durchgeführte Kastrationsaktion endete nach 11 Operationstagen. 11 x 24 ereignisreiche Stunden, die vollgepackt mit körperlicher, und psychischer Belastung waren. Physisch, weil die Straßenhunde von Veria oft sehr große Herdenschutzmischlinge sind und es wirklich Kraft kostet, mit diesen Riesen umzugehen, sie narkotisiert auf den Tisch zu tragen und in den Tiefen der Bäuche die Ligaturen zu setzen. Psychisch, weil … das wissen Sie bereits. Dennoch sind wir glücklich, mit den durchgeführten Kastrationen viel zukünftiges Leid verhindert zu haben. Herzlichen Dank an das gesamte Team - ihr ward tapfer und stark. Ich freue mich schon sehr auf den nächsten Einsatz mit euch.

Eure Melanie

Helfen

Der Förderverein Arche Noah Kreta e.V. ist ein tiermedizinisch orientierter Tierschutzverein, dessen Schwerpunkt die Kastration von Straßentieren ist. Das Team besteht aus mehreren Tierärztinnen und Helferinnen, die international Kastrationsaktionen durchführen.
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In vielen unserer Projekte werden regelmässig Helfer benötigt. Manchmal brauchen wir tiermedizinisch vorgebildete Unterstützung. Manchmal einfach Menschen, die die Tiere vor und nach der OP betreuen, Boxen waschen und anpacken, wo Hilfe benötigt wird. Wenn Ihr der Meinung seid, dass wir Euch kennenlernen sollten, sendet uns eine Email an   jobs@tieraerztepool.de.
Oft aber kann jeder einfach helfen - so zum Beispiel bei den Kastrationsprojekten auf Rhodos oder in Epanomi. Hier werden Leute benötigt, die Katzen vom und zum Fangort fahren, Fallen und Boxen reinigen usw.

In den Helfergruppen auf Facebook könnt Ihr Euch vernetzen:

  Flying Cats e.V. - Kastrationsprojekt Rhodos - Helfer

  ACE - Tiere in Not (Epanomi)

TierInsel Umut Evi e.V.: Kontaktaufnahme über tierinsel-tuerkei-vorstand@t-online.de